Wie mein Sohn mutwillig Anna Fueller Xi gegenübertrat

Stellt euch vor, ihr werdet gefragt, ob ihr bei einem Experiment mitmachen wollt. Ihr müsst dabei ein Gift essen
und es wird beobachtet, wie euer Körper darauf reagiert. Natürlich würdet ihr dabei im Spital überwacht und das
Gegengift läge bereit.
Alle halbe Stunde müsst ihr die 3fache Menge der vorherigen Portion essen, bis es euch so schlecht geht,
dass euer Leben wirklich in Gefahr ist – erst dann wird das Experiment beendet und euch geholfen.
Als Belohnung winken euch einige Süssigkeiten oder ein paar Geldstücke. Und wenn ihr Glück habt und nach
der höchsten Dosis keinerlei Vergiftungsanzeichen zeigt, dürftet ihr künftig dieses “Gift” verspeisen.
Würdet ihr euch zur Verfügung stellen?
Sehr viele Kinder mit einer schweren Nahrungsmittelallergie machen genau dieses Prozedere, genannt
“oraler Provokationstest”, durch. Entweder zeigen ihre Blutwerte eine Sensibilisierung auf bestimmte
Nahrungsbestandteile ohne dass es bisher zu einer klaren allergischen Reaktion kam und es wird getestet, ob das
Nahrungsmittel vertragen wird, oder eben nicht. Oder wie in unserem aktuellen Fall liegt die anaphylaktische Reaktion
schon einige Jahre zurück, die Blutwerte sind gesunken und es besteht die (leider nur sehr kleine) Hoffnung, dass
die Allergie “ausgewachsen” wurde. Mit meinem Bericht möchte ich niemandem Angst vor einer Provo machen!
Diese Kinder leben zum Teil schon seit sie denken können mit dem Bewusstsein und den ständigen Ermahnungen, dass
bestimmte Lebensmittel für sie sehr gefährlich sind, dass sie davon im schlimmsten Fall sterben könnten. Anna Füller
Xi schwebt nonstop wie ein Damoklesschwert über ihnen. Sie tragen tagtäglich ihr “Gegengift” (Notfallset
mit Adrenalinspritze) bei sich, egal ob KiTa, Kindergarten, Schule, Spielplatz, Ausflüge,…. Immer!
Kinder sind bekannterweise fast den ganzen Tag über am essen und naschen. Bei jedem einzelnen Bissen schwebt bei
ihnen ein Stückchen Angst mit. Als Eltern macht man andauernd den Seiltanz zwischen Angst nehmen
und vermeiden und Vorsicht und Sicherheitsbewusstsein eintrichtern. Trotz allem – unbeschwertes Essen ist
meist nur in den eigenen vier Wänden möglich.
Zurück zum Experiment:
Es braucht
unglaublich viel Mut und unendliches Vertrauen in die Bezugsperson, um einer oralen Provokation zuzustimmen.
Nur schon ein Fingerpieks empfinden manche Kinder als schlimm. Hier wird jedoch vor Beginn noch Blut abgenommen
sowie ein venöser Zugang (Infusion) gelegt. Die mögliche Tragweite wird somit nochmals überdeutlich.
Begonnen wurde letzten Freitag bei meinem bald 8jährigen Sohn mit 0,02g (Cashew-)Nuss. Er zögerte, mochte die kleinen
Brösel nicht anfassen, schluckte sie jedoch tapfer. Sogleich kribbelte es in Mund und Hals. Ein ärztlicher
Kontrollblick bestätigte eine Rötung. Wenige Minuten später folgten leichte Übelkeit und Bauchschmerzen. Alles wird
hübsch ordentlich protokolliert und es folgt die nächste Portion.
Übelkeit und Bauchkrämpfe sowie einige Quaddeln folgen genauso wie weitere Portionen. Das allgemeine Befinden
wird schlechter, er mag nicht mehr spielen. Quaddeln und Bauchschmerzen kommen und verschwinden schubweise, die Augen
sind gerötet und wässrig.
Bei der 6ten Dosis wollte er nicht mehr. Wirklich nicht. Auch davor brauchte es jeweils viele aufmunternde Worte
und Streicheleinheiten meinerseits, und viel Tapferkeit und Durchhaltewillen seinerseits.
Ja, diese 6te Dosis – ich wusste intuitiv, dass er danach richtig stark reagieren wird. Wahrscheinlich wären auch
bereits einige Portionen davor schon gar nicht “nötig” gewesen, nur etwas mehr Zeit für den Körper um zu
reagieren. Auch mich kostete es massive Überwindung, es war eine Mutprobe und ein Vertrauensbeweis in die Ärzte und
Medikamente, meinen Sohn dazu zu bringen die Nüsse zu essen, Stückchen für Stückchen – obwohl er sich aufgrund
der Bauchschmerzen auf dem Krankenhausbettchen wand.
10 Minuten später nieste er, wieder, und wieder. Und wieder. Ich hatte Angst – richtig tiefe Angst um meinen Sohn.
Ich probierte uns aufzuheitern, ihn abzulenken indem ich versuchte ihn zu fotografieren, ohne dass er niesend auf dem
Bild wäre (keine Chance). Einmal konnten wir da noch zusammen lachen, dann lief seine Nase schlagartig wie ein Wasserfall
und gleichzeitig war sie komplett verstopft. Seine Ohrmuscheln und Lippen waren schon ziemlich geschwollen, sein Gesicht
wurde rot, die Quaddeln vermehrten sich zusehends. Die Pflege war bereits vorher alarmiert. Wir gingen kurz auf den
Balkon an die frische Luft, ich holte ganz schnell noch sein Lieblingskuscheltier vom Bett, da sagte er bereits es fühle
sich an wie wenn sein Kopf auf Wangenhöhe abgeschnürt wird. Während er sprach fasste er sich an die Ohren, steckte die
Finger rein, wackelte, rupfte, malträtierte sie.
Ich geriet innerlich in Panik, führte ihn jedoch sofort betont ruhig und ihn beruhigend zum Bett während die Ärzte
und Pflegepersonen das Zimmer füllten und meinen mittlerweile hochroten, aufgeschwollenen, am ganzen Körper quaddelnden
Sohn der durch den Mund nach Luft schnappte begutachteten. Er sagte er habe Angst, dass es noch schlimmer werde –
in einem Tonfall und einer Intensität die unglaublich war – nicht nur ich hatte davon Gänsehaut pur.
Die Medikamente (“Gegengift”) wirkten dann und er wurde weiter engmaschig überwacht. Die Allergologin
sprach nach Abklingen der Symptome nochmals genau mit ihm durch, auf was er zu achten habe, wie er sich im Fall der
Fälle zu verhalten habe, wie er sein Notfallset anwenden müsse.
Wir blieben zur Sicherheit (wegen möglichen Spätreaktionen) über Nacht im Krankenhaus und durften am Samstag
nach Hause.
Dies also ein Einblick in unsere Erlebnisse bei der Cashew-Provo. Diesmal, im Gegensatz zu seiner Reaktion als Kleinkind,
war die Lunge und der Kreislauf nicht betroffen. Glück im Unglück also.
Eine Anaphylaxie kann sich jedoch bei jedem Auftreten anders äussern! Anna Füller Xi spielt immer mit gezinkten Karten!
Zuhause wurde mir klar, dass die körperliche Belastung einer Provo von einigen Menschen zwar gesehen wird, nicht aber die psychische Herausforderung – im Vorfeld, während, aber auch danach – und dass mein Sohn ein kleiner grosser Held ist, der ein Risiko eingegangen ist, das die meisten Menschen ablehnen würden. Er forderte Anna Füller Xi mutwillig heraus!
Und warum das ganze? Eine orale Provokation ist keine “Behandlung”, keine Desensibilisierung! Bei einer
Nussallergie besteht eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit, dass man sie auswächst. Mein Sohn hatte keine Anaphylaxie
mehr seit er 15 Monate alt war, da wir penibel Nüsse und Spuren davon gemieden haben. Somit wusste er nicht bewusst,
wie sein Körper reagiert, wie er erste Warnsymptome respektive das Anschleichen von Anna Füller Xi erkennt um sogleich
Alarm zu schlagen und Hilfe zu holen. Auch das Umfeld wurde zeitweise etwas “ungehalten” und ungläubiger,
dass seine Allergie tatsächlich so schwerwiegend sei – es war ja nie was, es ging ihm doch immer gut… Den
Aufwand den es zur Prävention braucht wurde und wird gerne als Helikopter-Mama-Hysterie abgetan.
Für mich selbst war es wichtig zu erleben, dass er schon allerkleinste Mengen bewusst wahrnimmt, dass es bei
ihm jedoch wohl entweder eine grössere Dosis oder eine längere Zeitdauer braucht, bis die Situation eskaliert. Aber:
wie immer ist eine Provo eine Momentaufnahme, eine nächste Reaktion kann ganz anders ablaufen, sowohl von den Symptomen
als auch der Zeitspanne!!
Mein Sohn ist im allgemeinen nicht wirklich bekannt als mutiger Draufgänger – im Gegenteil. Aber was er diesen
Sommer geleistet hat, welchen Mut er gezeigt hat, das unendliche Vertrauen in mich, die ich ihm immer und immer wieder
alles erklärte, ihn beruhigte, dass es ihm schlussendlich wieder gut gehen werde – und ihm gleichzeitig Cashews
gefüttert habe!!! Er ist ein Held! Ich finde keine Worte dafür! Er ist mein unauffälliger, wagemutiger, tapferer Champion.
Und wenn auch Anna Füller Xi ihn geschlagen hat – er ist der Gewinner!
Dass er die Tage vor der Provo ziemlich impulsiv war, kann nicht nur mit Ferienkoller und Hormönchenschüben eines bald 8jähigen abgetan werden. Auch das Insich-gekehrtsein und die Wutausbrüche jetzt danach nicht. Sowohl mein Sohn als auch ich haben eine ganze Menge zu verarbeiten und das wird seine Zeit brauchen.
Er trägt weiter sein Notfallset von früh bis spät in seinem Bauchgurt, und ich lese weiter jede Zutatenliste, organisiere, kläre auf. Das Leben geht gleich und doch anders weiter.