Nahrungsmittelallergie: Der Tod ist nicht unsere einzige Angst

Von Gianine D. Rosenblum, PhD
Letzthin an einer Veranstaltung über Nahrungsmittelallergien, erinnerte ein hoch angesehener Allergologe das Publikum: „Die Sterblichkeitsrate bei Nahrungsmittelallergien ist sehr niedrig.“ Damit wollte er beruhigen; Menschen sterben selten daran, sie müssen deswegen keine Angst haben. Die Folgerung schien zu sein, dass diese Angst bei Patienten mit Nahrungsmittelallergien und deren Familien fehl am Platz ist.
Obwohl jeder Todesfall einer zu viel ist, sagte der namhafte Arzt die Wahrheit. Tod durch Nahrungsmittelallergie ist selten. Ein Ereignis mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit, selten. Das Risiko, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen, ist sehr viel höher als das Risiko, an einem Nahrungsmittelallergen zu sterben. Aber für Leute mit Nahrungsmittelallergien und ihre Familien fühlt es sich nicht so an. Die Bestätigung, dass mein Kind bei einem Autounfall eher stirbt als durch versehentlichen Verzehr von Erdnussprotein, hat nichts an meinem Gefühl der Bedrohung durch die Nahrungsmittelallergie geändert. Als ich an diesem Tag bei vielen anderen Familien mit Nahrungsmittelallergien nachfragte, erfuhr ich, dass es ihnen genauso ging.
Ich bin nicht nur Mutter eines Teenagers mit mehreren Nahrungsmittelallergien, sondern auch Psychologin und Wissenschaftlerin. Ich glaube an die Aussagekraft von Daten und Statistiken und daran, dass Fakten über emotionale Argumente gewinnen sollten. So haben mich die Reaktionen zum Kommentar des Allergologen zum Nachdenken angeregt. Warum werden wir dadurch nicht beruhigt? Wieso gibt es so viel Angst?
Nahrungsmittelallergikern wird als das lebensrettende Verhaltensmuster gelehrt: “Epi first, Epi fast” (also den Adrenalinpen schnell und als erstes zu verwenden; Epinephrine = Adrenalin). Und obwohl das Todesrisiko durch eine Nahrungsmittelallergie niedrig ist, können zu dem Zeitpunkt, an dem der Entscheid für die Adrenalin-Injektion und den Notruf fällt, nicht lebensbedrohliche von den tatsächlich lebensbedrohlichen Reaktionen nicht unterschieden werden. Jede Reaktion jenseits der milden Einzelsymptomreaktion muss so behandelt werden, als sei sie potentiell lebensbedrohlich. Daher können wir die statistische Realität, dass die Sterblichkeit selten ist, nicht beherzigen. Um die Sterblichkeitsraten niedrig zu halten, müssen wir uns nämlich so verhalten, als würde jeder Kontakt eine Reaktion hervorrufen und jede Reaktion tödlich sein.
Darüber hinaus sind wir besorgt, weil es bei Nahrungsmittelallergien nicht nur um die Angst vor dem Tod geht. Es geht um die massive Belastung, Aufregung und den Aufwand bei einer allergischen Reaktion. Es geht um die Nadelphobie von Kindern, welche schmerzhafte Adrenalin-Injektionen, Haut-Prick-Tests und Blutuntersuchungen hatten. Es geht um Verlegenheit und Scham, um Stigma, Mobbing und Isolation. Es geht um die drohende Gefahr, dass positive Erfahrungen für Sie und Ihre Umgebung ruiniert werden, wenn Sie eine Reaktion haben. Es geht darum, jedes Erlebnis rund ums Essen zu unterbrechen, weil Lebensmittelzutaten und -zubereitungen hinterfragt werden müssen. Es geht um den Verlust, die Enttäuschung und das Unbehagen, wenn es keine sichere Nahrung gibt und Sie dann nichts (einfach so) essen können. Es geht darum, dass Job-Bewerbungen abgelehnt werden, Laufbahnen abgebrochen werden, weil man mit Kunden essen gehen oder häufig reisen müsste. Es geht um das Wissen, dass man keine Erleichterung empfinden kann wenn die Ambulanz kommt, weil sie manchmal kein Adrenalin dabei haben, und oftmals die Ärzte der Notaufnahme nicht wissen, dass Adrenalin die erste Wahl bei Anaphylaxie ist, und dass man für die korrekte Behandlung kämpfen muss.
Eine Anaphylaxie durchzuleben, auch im Wissen einer vermutlich vollständigen Genesung, ist äußerst beklemmend, sehr angstauslösend und, wenn sie als lebensbedrohlich wahrgenommen wird (unabhängig davon, ob dies der Fall ist), kann dies für alle Beteiligten – Patienten, Angehörige und Beobachter – traumatisch sein. Bei Nahrungsmittelallergikern gehen auch milde Symptome allergischer Reaktionen mit der Angst vor einer Eskalation zur Anaphylaxie einher, was zusätzliche Unruhe auslöst. Diese Angst bleibt, bis der Körper klar signalisiert, dass sich diesmal keine Anaphylaxie manifestiert. Aufgrund dieser zahlreichen, sehr konkreten Belastungen bemühen wir uns ständig, jegliche Reaktionen zu verhindern, nicht nur um dem Tod zu entgehen.
In der Tat könnte die Sterberate deshalb niedrig sein, weil aufgrund des Sicherheitsverhaltens bei Nahrungsmittelallergien nur begrenzte Allergenexpositionen gegenüber kleinen Dosen vorkommen sowie dank der vermehrten frühen Adrenalin-Anwendung. Diese Tatsachen helfen Eltern jedoch nicht, wenn sie versuchen, dieses Sicherheitsverhalten bei ihren kleinen Kindern (und auch bei Jugendlichen) zu erreichen. Wenn man einem Kind mit Nachdruck einbläut, wieso es von einem Freund keinen Keks annehmen darf, müssen die Eltern eine klare und unmissverständliche Sprache verwenden: “niemals”, “Gefahr”, “krank”, “Krankenhaus”, “Nadel”, “Tod”. Wir benutzen diese Sprache, weil sie funktioniert. Natürlich funktioniert das über Angst. Wenn diese Angst erst einmal vorhanden ist, kann man sie kaum rückgängig machen, wenn man Jahre später dann herausfindet, dass die Statistiken sich von den Informationen unterscheiden, die man seit dem zweiten Lebensjahr erhalten hat.
Wir verwenden diese Sprache auch bei den Erwachsenen um uns herum, die es nicht „kapieren“ – die Leute, die denken, dass die Nahrungsmittelallergie nicht schwerwiegend ist, und bei der Party Nüsse auftischen, die Leute, die unseren Kindern etwas Milch einflössen könnten, nur um zu beweisen dass wir übertreiben, die Familienmitglieder, die den Adrenalin-Autoinjektor regelmäßig vergessen, wenn sie unsere Kinder zum Fußballtraining bringen. Einige dieser Leute werden, wenn ihnen Daten zu niedrigen Sterberaten vorgelegt werden, sich nur auf die Statistiken stürzen und die Notwendigkeit von Sicherheitsmaßnahmen zurückweisen – so als ob Sicherheitsverhalten und sichere Ergebnisse nicht miteinander zusammenhängen. Andere neigen dazu, Informationen zu ignorieren, es sei denn, sie weisen ihren Standpunkt nach. Wenn sie denen sagen: „Das Todesrisiko ist gering. Aber dennoch müssen Sie in jedem Fall diese Regeln jedes Mal befolgen“, erhöht sich möglicherweise die Wahrscheinlichkeit, dass vernünftige Sicherheitsmaßnahmen missachtet werden, da sie nur “Das Todesrisiko ist gering” hören und den Rest ignorieren. Also sagen wir: „Sie müssen jedes Mal die Etiketten lesen, oder es könnte in der Notaufnahme landen“ oder „Sie müssen jedes Mal den Pen setzen, oder es könnte sterben.“ Und wieder verwenden wir Angst. Es ist das stumpfste Instrument, das am effektivsten ist, um unser Ziel der Risikosenkung zu erreichen.
Jeder gute Psychologe wird Ihnen bestätigen: Mit der Zeit wird Verhalten zum Glauben, besonders wenn das Verhalten von Furcht erfüllt ist. Es ist sehr schwierig für Menschen, konsequente Verhaltensmuster vom Glauben an dieses Verhalten zu trennen. Verhalten und Überzeugung separat zu behandeln führt zu Verwirrung, inneren Konflikten und noch mehr Angst. Je dramatischer das Verhalten, desto schwieriger ist es, Diskrepanz aufrechtzuerhalten.
Deshalb, aus gutem Grund, verhält sich die Nahrungsmittelallergie-Gemeinschaft in Worten und Handlungen so, als wäre sie ständig vom Tod bedroht. Um dieses systemische Problem anzugehen, brauchen Erwachsene Hilfe bei ihren Ängsten, so dass die Übertragung ihrer Angst auf die Kinder reduziert wird. Man muss Eltern helfen, andere Kommunikationsstrategien als Angst zu entwickeln, um ihren Kindern Sicherheit zu vermitteln. Kinder brauchen dem Entwicklungsstand angepasste Informationen, damit sie, wenn sie alt genug sind das Risiko zu verstehen, die Fakten kennenlernen und ihr Leben nicht unnötig einschränken müssen. Jugendliche und Erwachsene brauchen Hilfe bei sozialen und emotionalen Fähigkeiten, um Verlegenheit, Peinlichkeit und Scham immer auf ihre Allergie hinweisen zu müssen, zu reduzieren, damit sie nicht ihre Sicherheit vernachlässigen um den sozialen Komforts vorzuziehen.
Gründliche Aufklärung über die Erkennung von Anaphylaxie ist erforderlich, sodass die Unsicherheit die Reaktion auf Notfälle nicht behindert. Strategien wie Rollenspiele und Training zur Reduzierung von Nadelphobie können helfen, die Bereitschaft zur Verabreichung von Adrenalin zu erhöhen und Unsicherheiten bei der Umsetzung von Notfallplänen vorzubeugen. Jugendliche und erwachsene Patienten und Bezugspersonen sollten in der Lage sein, diese Notfallpläne ohne zu zögern und mit Autorität umzusetzen. Soziale Unterstützung, Psychotherapie und andere stressreduzierende Werkzeuge helfen mit dem Umgang und verringern die Angst; sie sollten allen zur Verfügung stehen. Darüber hinaus müssen die Anstrengungen verstärkt werden, um sicherzustellen, dass alle Notfalldienste über das aktuellste Wissen zur Behandlung bei Anaphylaxie verfügen, so dass, wenn Hilfe eintrifft, die Angst abklingen kann.
Fachleute schulden es der Nahrungsmittelallergie-Gemeinschaft, klar und genau zu sein, welche Risiken wir haben. Im Idealfall verfügen Fachleute aller Art über die umfassendsten und aktuellsten Informationen über Nahrungsmittelallergien und darüber, wie Patienten sicher leben können, während sie ein erfülltes, reiches und angenehmes Leben führen. Sie würden jeder Person helfen, einen Plan zu entwerfen, um sich angemessene, aber nicht übermäßige Wachsamkeit anzueignen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Fachleute, die mit der Nahrungsmittelallergiker-Gemeinschaft zusammenwirken, die vielfältigen Ursachen der Ängste verstehen lernen, auch die aus subtilen, versteckten und nuancierten Ursachen. Die meisten Versorger haben Mitgefühl und kümmern sich wirklich um ihre Patienten. Diese zusätzlichen Einsichten würden ihr Einfühlungsvermögen vertiefen und ihre Fähigkeit verbessern, uns bei der Bewältigung damit zu helfen.
Genauste Informationen zu Risiken und Sicherheit, kombiniert mit einer umfassenden Unterstützung und Möglichkeiten zur Entwicklung von Fähigkeiten, um eine Lebensmittelallergie mit Zuversicht zu managen, sollten Bestandteil jedes professionellen Patientenkontaktes sein. Mit diesen zusätzlichen Unterstützungsmaßnahmen müsste die Hoffnung groß und beruhigend sein, wenn wir uns der Tatsache bewusst werden, dass wir durch Befolgen der Notfallpläne fast garantiert am Leben bleiben. Und dass wir statistisch gesehen sicherer sind, mit Nahrungsmittelallergien durch die Welt zu gehen als in unseren Autos herumzufahren.
Gianine (Gia) Rosenblum ist zugelassene Psychologin in New Jersey und Mutter eines Kindes mit Nahrungsmittelallergie. Sie hat über 20 Jahre Erfahrung in der klinischen Praxis und mehr als ein Jahrzehnt in der psychologischen Forschung und Lehre. Sie ist derzeit spezialisiert auf die Behandlung von Trauma / PTSD bei Erwachsenen und Jugendlichen. In Zusammenarbeit mit Allergologen hat sie mit Erwachsenen, Kindern und Eltern, die sich mit einer Nahrungsmittelallergie auseinandersetzen, und solchen, die Anaphylaxie erlebt haben, zusammengearbeitet. Rosenblum ist Mitglied der American Psychological Association, der NJ Psychological Association sowie des Outcome Research Advisory Board der FARE.
Herzlichen Dank an Gia für die Erlaubnis, ihren Artikel übersetzen und hier veröffentlichen zu dürfen.
Danke auch an meine Familie und Melanie, für die Hilfe bei der Übersetzung.