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Anna Füller Xi freut sich über den Boom von Unverpackt-Läden und Boykottaufrufe gegen gewissenlose
Lebensmittelmultis. Sie erachtet Verpackungen jeglicher Art als überflüssig und ist begeistert, wenn
Dinge miteinander in Kontakt kommen. Klare An- und Aussagen sind nicht in ihrem Interesse, aber weil
sie ja gerne mit Statistiken jongliert, machte sie mich vor ein paar
Tagen auf folgende Meldung aufmerksam: Die Schweizer Bevölkerung produziert europaweit pro Kopf am
drittmeisten Abfall. 2017 waren das über 700kg pro Person. (Quellen: Europäisches Statistikamt
Eurostat und Bundesamt für Umwelt).
Da wäre doch noch was zu machen, forderte Anna Füller Xi mich auf. Lokale Produzenten und
Unverpackt-Läden unterstützen, nachhaltige Produkte verwenden, Nahrungsmittel-Grosskonzerne boykottieren,
Verpackungsmüll vermeiden – wer kann denn da schon dagegen sein? 😇
Ich oute mich hier mal als ziemlich Grün von Klein auf, die Natur und Umwelt liegt mir sehr am Herzen.
Ich versuche den ökologischen Fussabdruck von mir und meiner Familie so klein wie möglich zu halten und
ethisch verantwortungsvoll arbeitende Firmen zu unterstützen.
Dennoch bin ich (und wohl auch manch andere Mütter und Väter)
manchmal in Zeitnot und bin froh, wenn ich für ein schnelles Mittagessen gelegentlich zu Convenience-Produkten
greifen kann. Oder die Kinder liegen mir wochenlang in den Ohren, weil sie mal wieder XY essen möchten.
Ich bin auch nur ein Mensch*.
Ein kleiner, eigentlich völlig unbedeutender Nebeneffekt des Alltags mit einem anaphylaxiegefährdeten
Kind ist der erhöhte Müllberg. Angesichts der Hürden, die man mit dieser Krankheit jeden Tag bewältigen muss,
ist das nun wirklich belanglos! Dennoch wurmt es mich manchmal, wenn der Abfallberg mal wieder überhand nimmt.
Kennt ihr das auch, oder stört euch das überhaupt nicht? Wie geht ihr mit dem Dilemma um, dass oft
ausgerechnet ethisch fragwürdige Lebensmittelmultis ein hervorragendes Allergenmanagement haben und entsprechend
zuverlässig deklarieren?
Bei uns fängt es schon frühmorgens an:
☕Zum Frühstück ein leckeres Müesli – ja klar. Jedoch können wir aufgrund der schweren Allergie nicht
einfach irgendein biologisch-dynamisch-superfood-Vegi-Müesli vom lokalen Vegan-Kleinbetrieb auftischen. Das
könnte für meinen Sohn fatal enden. Nein, wir müssen uns darauf verlassen können, dass der Hersteller ein
richtig gutes Allergenmanagement hat (nicht nur auf dem Recyclingpapier), und wirklich zuverlässig deklariert
– auch mögliche Spuren des betreffenden Allergens.
Somit beginnt unser Tag schon mal mit einem der grossen Lebensmittelkonzerne.
Weiter zum Znüni, den ich den Kindern einpacke:
🍞Bäckereien sind aufgrund des enormen Risikos der
Kreuzkontamination für uns leider Tabu. Deshalb kaufe ich Backwaren abgepackt beim Grossverteiler
(derjenige, der nicht einfach auf alle Produkte alle Spuren hinschreibt, sondern allergikerfreundlich differenziert).
🍎Gurken im Plastikkondom kaufe ich nicht. Wenn aber Äpfel und Birnen im Regal direkt neben den offenen
Kisten mit den Nüssen platziert sind, dann greife ich schon mal dankbar zu den in Folien eingeschweissten Früchten.
🍲Zmittag koche ich meist frisch, aber auch hier darf ich nur Produkte verwenden, die zuverlässig deklariert
sind. Es gibt immer mehr Läden, die unverpackte Lebensmittel verkaufen. Eine wirklich tolle Sache um
unnötigen Verpackungsmüll zu vermeiden. In die eigenen Stoffsäckli (Mehrwegbeutel) oder Glasdosen abfüllen,
das finde ich grundsätzlich eine super Idee. Nur: Leider ist das Risiko für unbeabsichtigte Vermischung mit
einem anderen Produkt äusserst hoch. Ich sehe nicht, ob die Mehlschaufel vorher nicht doch im Behälter mit
den gemahlenen Haselnüssen war. Wurde der Behälter mit den Sonnenblumenkernen bisher nur dafür verwendet,
oder war davor Sesam darin, und wenn ja, wurde er gründlich gereinigt (und wie?). Vielleicht könnt ihr nachvollziehen,
dass uns diese unterstützenswerte Verkaufsform leider zu heikel ist. Nicht weil ich es unappetitlich finde,
es geht bei meinem Sohn um Leben und Tod.
🍗Käse- und Fleischartikel (ja, wir essen ab und zu auch Fleisch) kommen ebenfalls nur abgepackt zu uns
nach hause. Jetzt wundern sich bestimmt einige sehr, denn mein Sohn hat ja eine Nussallergie und keine
Laktoseintoleranz oder sowas. Nun ja, auch Pistazien gehören zu jenen Allergenen, auf die er anaphylaktisch
reagiert. Und Pistazien sind erstaunlich häufig in Fleischprodukten vorhanden (z.B. Aufschnitt, Mortadella,
Pastete, …). Und habt ihr schon von der leckeren Delikatess-Haselnuss-Salami und dem Schnitzel in Cashew-Panade gehört?
🧀Und die Molkereiprodukte? Tja, leckeren Nusskäse kennen ja bestimmt viele, zusätzlich ist seit einigen
Jahren ein weiteres Phänomen zu beobachten.Viele (vor allem kleinere, aber auch die grossen springen auf diesen
Zug auf) Käsehersteller möchten auch das lukrative Kundensegment der Vegetarier/Veganer bedienen. Und was gibt
diesen “Ersatz”produkten die cremige, süssliche, leckere Konsistenz: Cashew. Diverse Käsesorten,
Mozzarella, Frischkäse, ja sogar stinknormaler Quark sind mittlerweile mit der fiesen Cashew kontaminiert.
(Kontaminiert ist für die meisten Menschen wohl ein völlig übertriebenes Wort dafür. Aber stellt euch mal
vor, es handle sich statt um Cashew z.B. um Strychnin. Genauso gefährlich sind nämlich Cashew-Spuren für meinen Sohn).
🛍️Offenverkauf von Käse und Fleisch an der Frischtheke fällt deshalb für uns weg, denn die Käsemesser,
Aufschnittmaschinen, die Schneidebretter etc. werden nicht nach jeder einzelnen Ware gründlich mit Seifenwasser
gereinigt. Das ist auch realistisch gesehen nicht machbar, in meinen Augen verständlich und logisch. Somit
halten wir uns einfach an die abgepackte Ware mit zuverlässiger schriftlicher Deklaration.
🍒🍭Zvieri: Zum Glück mögen meine Kleinen äusserst gerne Früchte. Aber es sind Kinder, und welches Kind mag
nicht auch gerne Süsskram? Was kein Zutatenverzeichnis und Spurendeklaration hat, darf nicht gegessen
werden. Und wieder sind wir auf die Verpackung angewiesen.
Wenn ich mit meinem Sohn unterwegs bin, habe ich immer irgendwelche “sicheren”
Süssigkeiten in der Tasche. So muss er nicht traurig zusehen, wie seine Schwester oder andere Kinder um ihn
herum ihren überraschend ergatterten Zuckerschub geniessen. Er weiss, dass er dank meinem Notvorrat nicht
leer ausgehen muss. Und seit er lesen kann, möchte er auch selbst die Deklaration von allem lesen was er isst.
Wiederum sind wir froh um (Einzel-)Verpackungen.
Znacht: Siehe oben bei Brot, Käse, Wurst, Frischkäse, etc
🚛Der Müllbeutel füllt sich zusehends mit Verpackungsabfall. Aber ich kann euch versichern, jede Verpackung wird bei uns sehr geschätzt, penibelst (und mehrfach!) von mir und auch meinem Sohn gelesen, ob nicht doch einer seiner Feinde enthalten ist. Wir gehen nach dem 3mal-Lesen-Prinzip vor: Beim Einkauf wird die Deklaration gelesen, zuhause beim Verstauen der Vorräte noch einmal, und vor Verzehr wiederum. Das mag manchen übertrieben erscheinen, aber wir sind nur Menschen, wir überlesen auch mal was, und mit dieser Methode lässt sich dieses Risiko minimieren (ja, ich habe schon (selten) das Allergen beim ersten und zweiten Mal überlesen…). Bei loser Ware ist das nicht möglich. Wir sind also auf die Verpackung bzw. die schriftliche Deklaration angewiesen, auch wenn wir noch so gerne darauf verzichten würden!
🇨🇭Hier in der Schweiz sind wir ja in der recht komfortablen Situation, dass es gesetzlich vorgeschrieben ist,
auch mögliche Allergenspuren zu deklarieren (der Grenzwert beträgt 1g/kg Lebensmittel – das ist aber ein
Thema für einen eigenen Post ;-)).
🇪🇺In der ganzen EU ist dies jedoch nicht so. Da müssen nur allergene Zutaten deklariert sein, alles andere
ist freiwillig. Was machen die Menschen mit schweren Allergien dort? Die einzige Möglichkeit besteht darin, in
Erfahrung zu bringen, ob ein Hersteller mögliche Kreuzkontaminationen
freiwillig und zuverlässig deklariert, das Allergenmanagement der Firma
zu erfragen, und für sich eine Risikoabschätzung zu machen. Vor allem
Grosskonzerne und Lebensmittelmultis deklarieren oft vorbildlich, haben
aber natürlich auch die entsprechenden Ressourcen, um solche Prozesse
einzuführen. Kleineren Betrieben fehlt oft (noch) das Bewusstsein und
das Wissen um die Konsequenzen, die mögliche Spuren für schwere
Allergiker mit sich bringen. Somit hält man sich dann notgedrungen
wieder an die Multis.
*Ja, ich könnte das Frühstücksmüesli selbst herstellen, die Brötchen selbst backen, das Fleisch direkt vom Bauern mit eigenem Schlachter beziehen, eine Konditorei eröffnen, Gemüse selbst anbauen. Manches davon mache ich persönlich tatsächlich, aber es ist einfach nicht meine liebste Beschäftigung. Ich möchte meine Zeit nicht nur mit dem Thema Essen und Anaphylaxie verbringen, das beschäftigt uns schon jeden Tag genügend. Ich möchte auch Zeit für alle anderen Dinge im Leben mit meinen Kindern haben 😊
👉Ich hoffe, dass ich mit diesem Beitrag Verständnis erreichen kann, dass es
Lebenssituationen gibt, in denen man nicht “einfach” gewisse Dinge
boykottieren kann, dass es Gründe dafür gibt, dass jemand wirklich froh
ist um Verpackungen und sogar Einzelverpackungen.
💬Wie gehen andere Betroffene mit diesem Dilemma um?
💚 Eigentlich ist ja aber alles klar: das Leben eines geliebten Menschen
ist (mir) wichtiger als die Umwelt, auch wenn ich noch so grün hinter
den Ohren bin 😍🌳