Anna Füller Xi am St. Galler Kinderfest

Nachdem der “ewige Sommer 2018” nun wirklich vorbei ist und der Herbst Einzug hält, schaue ich zurück auf das St. Galler Kinderfest.
An diesem traditionellen Fest, das alle Schulen (1.-9. Klassen) der Stadt veranstalten, wird die gesamte Stadt St. Gallen alle 3 Jahre lahmgelegt, oder besser gesagt auf den Kopf gestellt und die Kinder ins Zentrum gerückt. Nur der schönste Frühsommertag ist gut genug, es gibt keinen festgelegten Termin. Über 5500 Schüler sind gemeinsam an einem fast 2stündigen Umzug beteiligt. Alle Klassen präsentieren auf den Bühnen der grossen Festwiese farbenfrohe Aufführungen.
Für diejenigen Leser, die sich nicht mit dem Risiko einer Anaphylaxie (schwerste allergische Reaktion, die
lebensbedrohlich sein kann) auseinandersetzen müssen, möchte ich gerne zuerst ein paar Dinge erklären, so dass ich
nicht gleich als hysterische Helikoptermama schubladisiert werde.
Bei einer Lebensmittelallergie mit Anaphylaxierisiko wird vom Arzt eine vollständige Karenz des auslösenden
Allergens verordnet. Das heisst, der Patient darf auch keine Spuren des entsprechenden Lebensmittels verzehren, da
dies bereits ausreichen kann, dass Anna Füller Xi zuschlägt. Der Aufwand, diese Spurenfreiheit sicherzustellen begleitet
uns tagein tagaus.
Zur Spurenfreiheit gehört auch die Vermeidung von Kreuzkontaminationen. Ihr könnt euch das vorstellen wie die
bekannten Bilder mit fluoreszierenden Erkältungskeimen, die sehr schnell überall verteilt sind. Mit dem Unterschied,
dass Allergene nicht mit Desinfektionsmittel entfernt werden können, sondern mit Seife. Das heisst zum Beispiel, dass
ein Messer, das vorher einen nusshaltigen Kuchen geschnitten hat, nicht für “sicheres” Essen benutzt werden
darf – gründliches Abwaschen mit Spülmittel ist unumgänglich. Dasselbe gilt zB auch für Nutella-verschmierte
Hände unserer kleinen Tochter. Sie muss sie mit Seife sauberwaschen, bevor sie etwas anderes berührt. Wenn mein Sohn
Spuren von Nüssen an seine Schleimhäute und/oder seinen Verdauungstrakt kriegt, kann das bereits für eine Reaktion
reichen. Vor allem, wenn sogenannte Co-Faktoren dazukommen, das Immunsystem also zusätzlich strapaziert ist. Dazu
zählen unter anderem Infekte, Aufregung, grosse Hitze, körperliche Aktivität etc.
Diese Vorsichtsmassnahmen sind nicht freiwillig und selbstgewählt, sondern aufgrund einer gründlichen
medizinischen Diagnose verordnet.
Zurück zum St. Galler Kinderfest:
Alle sind schon lange davor aufgeregt, vor allem die Schüler, aber auch die Lehrer, die Eltern, die ganze Stadt. Es wird schon Monate vorher dafür gebastelt, geprobt, geübt, Kleidung genäht, verziert, gesungen, getanzt. Und auch Anna Füller Xi freute sich auf diesen aufregenden Tag.
Die Verpflegung der Kinder und Lehrpersonen wird von der Stadt organisiert. Mit seinen tollen Lehrerinnen war abgesprochen, dass ich für meinen Sohn ganz pragmatisch sein Essen (abgesehen von der berühmten, aber zum Glück nussspurenfreien Kinderfestbratwurst) am Vortag in die Schule mitgebe und es wird arrangiert, dass es auch tatsächlich beim Festplatz ankommt. Wir alle dachten, damit wäre das Risiko mit kleinstem Aufwand für alle minimiert und wir könnten uns unbeschwert der Vorfreude hingeben.
Da hatten wir den Einfallsreichtum von Anna Füller Xi jedoch unterschätzt. Als ich einen aufgeregten Anruf der
Klassenlehrerin bekam, dass den Kindern zum Zvieri Nussgipfel ausgeteilt werden – ALLEN 5500 Schülern! –
da war es mit meiner Coolness dann doch auch vorbei. Als erstes beruhigte ich die Lehrerin, dass das dennoch machbar
ist mit einem anaphylaxiegefährdeten Kind. Er wird den Nussgipfel ja nicht selbst essen, und die Schmierhände der
Klassenkameraden liessen sich mit Feuchttüchern reinigen um Kreuzkontamination weitestgehend zu vermeiden. Und da
die Lehrpersonen an einem solchen Tag genügend anderes im Auge behalten müssen, versprach ich, dass ich während des
ganzen Tages unauffällig in der Nähe meines Sohnes sein werde.
Anna Füller Xi hatte es nun also tatsächlich doch noch geschafft. Die Faktoren körperliche Anstrengung, Aufregung und Sommerhitze zusammen mit der Vorstellung von tausenden Nussgipfel-Kinderhänden liessen mein Herz schneller wummern beim Gedanken an diesen schönen Tag. Ich organisierte, dass mein Wirbelwind-Töchterchen nicht an meinem eigenen Rockzipfel hängen würde – oder besser gesagt, dass ich ihr nicht in der Menschenmenge hinterherrennen muss. Beim nächsten Einkauf wurden zusätzliche Packungen Feuchttücher aufs Band gelegt und mein Sohn wiederholt daran erinnert, am Festtag nur sein sicheres Essen zu verspeisen, jedoch davor stets seine Hände gut abzuwischen.
Nach elfmaligem Verschieben war der langerwartete Tag endlich da, die Kinder wurden in ihre Festkleider gesteckt,
die Farben waren klassenweise genau vorgegeben (bei uns weiss-rot-schwarz). Das Notfallset meines Sohnes hätte nicht
besser ins Bild passen können! Und aufgeregt stürmten die Kinder zu den Schulen.
Ich packte in meine Tasche das zweite Notfallset, weitere sichere Esswaren sowie massenhaft Feuchttücher und
machte mich auf den Weg um in der Nähe der Festwiese den Umzug zu bewundern. Die Strassen waren gesäumt von stolzen
Eltern, Grosseltern, ehemaligen Schülern, tausenden von Menschen. Und ich dazwischen, ebenfalls stolz, in Erinnerungen
an die eigenen Erlebnisse beim Kinderfest schwelgend – und einer hämisch grinsenden Anna Füller Xi im Hinterkopf.
Ich hatte keine Musse, den Umzug zu ende zu schauen, kaum war der Zug unseres Schulhauses vorbeimarschiert, machte
ich mich auf den Weg. Als erstes lokalisierte ich die Erste-Hilfe-Posten auf der Festwiese, dann hielt ich mich wie
abgesprochen in der Nähe des Sammelpunktes seiner Klasse auf. Nach dem Znüni, vor der ersten Aufführung, durften die
Kinder mit ihren Eltern Zeit verbringen. Mein Sohn steuerte mit mir die vielen Stände mit Ballons, Spielzeugkram etc.
an, dabei kamen wir an einem der Sanitätsposten vorbei. Er stoppte kurz, nahm mich an der Hand und zog mich dort hinein.
Er wollte sich den Sanitätern vorstellen, damit sie ihn kennen, falls die Allergie zuschlägt. Die Rettungssanitäter
reagierten super, fragten ihn, ob er sein Notfallset dabei habe, bewunderten den farblich passenden
Bauchgurt und wünschten uns einen fröhlichen Tag ohne wiedersehen.
Ich war beeindruckt von dieser für mich überraschenden Aktion. Anna Füller Xi begleitet meinen Sohn tagtäglich,
und sogar an diesem ausserordentlichen, turbulenten Tag war er sich ihrer
Bedrohung bewusst. Er verkroch sich jedoch nicht ängstlich, ignorierte sie auch nicht, sondern überlegte sich
unaufgeregt, wie er sie schnellstmöglich bekämpfen könnte und lernte seine möglichen professionellen Verbündeten gegen
Anna Füller Xi gleich selbst kennen.
Es war ein wunderschönes Kinderfest, ein riesiger Trubel, strahlende Augen soweit das Auge reicht, strahlende Sonne, glückliche Menschen. Und als es am Nachmittag dann Zeit für die Nussgipfel war, pochte mein Herz zwar schneller, das glückliche Lachen konnte Anna Füller Xi mir aber nicht verderben.
Für mich kam es keine einzige Sekunde lang in Frage, meinen Sohn nicht am Kinderfest teilnehmen zu lassen. Die Erinnerung daran bleibt ein Leben lang, das weiss ich aus eigener Erfahrung. Anna Füller Xi darf sich aber gerade an einem solchen Tag keinesfalls einmischen.
Es war einer der wunderbarsten Tage dieses Sommers, auch wenn die Angst mich unsichtbar begleitete, es ist alles
machbar. Mit Zusatzaufwand, Zuversicht, Vertrauen auf allen Seiten, und dem nötigen Respekt vor Anna Füller Xi lassen
sich auch 5500 Nussgipfel rund um ein nussallergisches Kind managen!
Anna Füller Xi wartete an diesem Tag vergeblich beim Sanitätsposten. Ach wie gerne wäre sie mit Blaulicht und dem Bauch voller leckerer Nussgipfel Richtung Kinderspital losgedüst. Tja, zu früh gefreut! Schade hat sie ihren Hexenhut nicht zuhause vergessen, sonst hätte sie bestimmt einen Hitzeschlag bekommen.
Als ich heute meinen Sohn fragte, was für ihn das Schönste beim Kinderfest war, kam die Antwort: Das Singen auf der Bühne und der Flugdrachen. Diesen bekam er als Ersatz für einen Schokokuss mit Nussspuren, den er bei einem Spielewettkampf auf der Festwiese gewonnen hatte.